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Lust ohne Strafe ist der Horror aller Herrschaft

Ein Plädoyer für selbstbestimmte Elternschaft 

Kinder und ihre Eltern; Familie und Verwandtschaft– das sind die scheinbar natürlichsten Grundlagen unserer Existenz. Sie liegen im Bereich des Privaten und damit in einer Sphäre, die dem politischen Diskurs immer schon vorausgeht, aber dennoch auf engste mit ihm verwoben ist. Einerseits ist das Wissen um sexuelle Beziehungen, wer, mit wem, wann, wo geschlafen hat, explizit das Private, ja Obszöne, wenn es belauert wird. Andererseits greifen gerade hier staatliche Regelungen, religiöse Vorschriften und kulturelle Tabus, also explizit die Sphäre des öffentlichen und politisch Verhandelten. Daraus ergibt sich ein wechselseitig bedingtes und höchst emotional besetztes Geflecht. So wird zwar immer reklamiert, dass sich der Staat aus dem Schlafzimmer heraus halten solle, aber genau im Gegensatz dazu bildet eine biologistisch durchdrungene Verwandtschaftsbestimmung die kulturelle Textur unserer Identitätsvorstellung.

Für die Konstruktion unserer Identität  in unserem Denken und unserem Selbst-Bild ist sehr wesentlich, wie wir unsere Genealogie bestimmen. Unmittelbar wird sichtbar, unter welcher ideologischen Prämisse sich unser Denken vollzieht – denn Elternschaft kann ja auf zwei verschiedene Arten zustande kommen. Zum einen durch Adoption. Erwachsene entscheiden sich aus freien Stücken dazu, uneigennützig für ein Kind zu sorgen und übernehmen die Verantwortung für diesen neugeborenen Menschen. Wenn Kinder adoptiert werden, wird ihr Familienname der ihrer nicht leiblichen Eltern.      
Diese Form der Genealogie kommt durch die positive Annahme eines Kindes, ein Zuneigungsversprechen der Eltern zustande, das sich durch die Übergabe des Familiennamens an das Kind widerspiegelt. Die Beziehung wird sprachlich - damit öffentlich - vollzogen, also in dem Medium, auf das sich Denken und Kultur, Moral, Recht und Mythos gründen. Die andere Möglichkeit, wie Elternschaft konstituiert wird, ist durch biologische Abstammung. Diese Form der Elternschaft als die unhinterfragbare Norm anzusehen, ist eine Auffassung, die sich in den letzten 300 Jahren im Zuge der Aufklärung und dem Aufkommen moderner Medizin, Naturwissenschaften und Psychiatrie durchgesetzt hat.

Im Verlauf dieser Entwicklung wurde eine ständische Hierarchie qua familiärer Genealogie abgelöst durch eine Hierarchie von Leistungsträgern. Die Universität wurde zur herrschaftsprägenden Institution. Der erworbene Doktor- und Professorentitel löste den Adelstitel ab. In dem Maße wie naturwissenschaftliches Denken auch auf soziale Beziehungen übertragen wurde, vollzog sich ein Paradigmenwechsel weg von Beziehungen, die auf Anerkennung und Zuneigung beruhen sollten, hin zu Beziehungen, die als  kausal erzwungen konzeptionalisiert werden. Naturwissenschaft erlaubt durch die Objektivierung und Strukturierung mit mathematischen Modellen und Kausalketten starke Prognosen und neue Erklärungen der Vergangenheit. Der Erfolg der modernen Naturwissenschaft führte einerseits zu einer großen Produktivitätssteigerung - erwähnt sei z.B. nur die Entdeckung der Elektrizität und ihre technische Nutzbarmachung. Andererseits verführten diese Erfolge dazu, auch gesellschaftlichen, geschichtlichen und persönlichen Prozessen eine Gesetzmäßigkeit zu unterstellen. Um scheinbare Sicherheit in das Offene von menschlichen Beziehungen zu bringen, kommt es entgegen jahrtausende altem Wissen zu dem Trugschluss, biologische Verhältnisse mit sozialen zu vertauschen. Im Gegensatz dazu steht z.B. das salomonische Urteil, in dem keine Untersuchung auf Schwangerschaft oder Zeugen der Geburt, sondern nur der Liebesbeweis bei Androhung der Vernichtung des Kindes zählt. Ganz ähnlich ist im Grunde genommen die Geschichte von Brechts kaukasischem Kreidekreis, in der die uneigennützige Liebe einer Mutter zu dem von zwei Frauen beanspruchten Kind zum allein entscheidenden Kriterium für ihre Mutterschaft gemacht wird. In beiden Beispielen wird die Leiblichkeit beziehungsweise biologische "Beschaffenheit" gerade nicht zur Bestimmung von "Verwandtschaft" herangezogen, sondern nur die reale Beziehung zwischen dem Kind und der so zur Mutter gewordenen Person.

Denn Elternschaft ist im Wesentlichen eine soziale Beziehung, was in unseren Gesellschaften durch verschiedene Mystifikationen in den Hintergrund getreten ist. Aber wie können wir ihnen entrinnen?

Wir schlagen vor: Einfach indem alle Kinder adoptiert werden. Es gäbe dann keine andere Elternschaft außer der freiwilligen, technisch vollzogen etwa durch eine unerzwingbare Unterschrift der Eltern auf der Geburtsurkunde eines Kindes. Sicherlich ginge damit einher, dass leibliche Eltern ein vorrangiges, zeitlich limitiertes Optionsrecht auf "Adoption" des Kindes hätten, aber andererseits könnten keine Gen- oder Chromosomenspender zur Elternschaft gezwungen werden. Die genaue Festlegung dieser Optionszeit bliebe einem Gesetzgebungsverfahren überlassen. Das Eltern-Kind-Verhältnis würde damit von vornherein auf eine gewaltfreie Basis gestellt, der Wille zur Übernahme der Verantwortung für ein Kind zur Grundlage für einen gemeinsamen Lebensabschnitt, wenn nicht für das ganze Leben. Mit Adoption als definitorischem Regelfall würde die Gesellschaft einen Quantensprung machen, vergleichbar dem Fortschritt, den eine Partnerschaft aus Zuneigung gegenüber einer unter Mitgiftaspekten erzwungenen Verkuppelung darstellt. Die Geburtsurkunde bekäme dadurch Vertragscharakter. Sie dokumentierte die einverständliche Übernahme einer Erziehungsverpflichtung der Eltern, im Gegensatz zu einer Abstammungsurkunde, die zur Erziehung berechtigt. Denn durch die derzeitige Konstituierung von Elternschaft wandelte sich Erziehung zu einem biologisch verstandenen Vorgang.

Die Phantasie von "biologischer" Abstammung würde abgelöst durch sprachliche Genealogie; der Familienname wäre die Verbindung zur Vergangenheit. Das Sprachliche definiert die Herkunft: tatsächlich leben wir ja nicht als Molekülhaufen mit Molekülähnlichkeitshaufen zusammen, sondern als kommunizierende Wesen, das heißt sprachlich verfasst.

Mit diesem Modell von selbstbestimmter Elternschaft wäre jede "Zwangselternschaft" ausgeschlossen und Sexualität würde von elterlicher Verantwortung für ein Kind entkoppelt. Als willkommener  Nebeneffekt würden damit Sexualität und Schwangerschaft von basalen Ängsten befreit. Ein zentrales Element von Herrschaft würde zur Disposition gestellt, denn Lust ohne Strafe ist der Horror aller Herrschaft.

Wird denn nicht auch ein "Wunschkind" erst dadurch realisiert, dass Eltern es in einem Akt des willentlichen Einverständnisses zur Übernahme der Verantwortung für dieses Kind einlösen? Ist nicht das herrschende Verständnis vom „eigenen Wunschkind" ein Konstrukt und tatsächlich zutiefst biologistisch, ja rassistisch und ausgrenzend?

Mit dem Begriff Wunschkind verbindet sich landläufig ein ganz anderer Paradigmenwechsel. Kinder waren bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts eher ein zufälliges Resultat von Sexualität und regelmäßig eben nicht planbar. Kinder wurden daher als Geschenke bzw. als Gabe verstanden. Eine damit einhergehende Sexualmoral suchte durch die heiligen Sakramente der Ehe Erziehungsverpflichtungen rigide durchzusetzen und verbrämte das als Erziehungsberechtigung. Nichteheliche Sexualbeziehungen wurden hingegen, wenn sie darüber hinaus durch eine Schwangerschaft offenkundig wurden, mit großer Schuld, Scham  und Schande belegt. Sie führten zu den bekannten traumatischen Situationen, deren Darstellung in der Literatur ganze Bibliotheken füllt.

Neue Patente hatten einem Boom der Antikonzeptiva zur Folge, mit denen sexuelle Freiheit, vordergründig durch die Planbarkeit des Kindersegens, ermöglicht werden sollte. Damit tat sich nun aber erst recht die biologistische Falle auf, denn durch das Konzept der Kontrolle über Zeitpunkt und Umstände der Fortpflanzung wurde diese zum normativen Regelfall, Abweichungen hiervon umso mehr  zum selbstverschuldeten Unfall. Symbol für das entsprechende regelkonforme Verhalten wurde das Wunschkind, wobei zunehmend aus dem Blick geriet, dass es dabei um Anerkennung und den Wunsch nach Erziehungsverpflichtung geht, nicht um eine in der Produktionslogik liegende Zuchtfrage. Hinter der Fassade von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit kumuliert darin die tatsächlich herrschende und ineinander verwobene Triade der Aufklärung Rationalismus, Produktionismus und Biologismus. Die mit der Neuzeit als Konzeption verheißene Naturbeherrschung konnte damit umgesetzt werden, in dem sie vollends der scheinbaren Kontrolle des  Einzelnen unterstellt und damit statt flottierender Lust der vorwegeilende Gehorsam perfektioniert wurde. Die Möglichkeit zur Kontrolle über die Fortpflanzung wurde vor dem Hintergrund einer biologistischen Grundüberzeugung informell zu einer Verpflichtung zur Kontrolle derselben. Angereichert durch die sich anschließenden medizinalisierten Reproduktionstechniken wie bspw. künstliche Befruchtung sowie die Möglichkeiten pränataler Diagnostik wurde inzwischen aus einem Kind als Geschenk ein zielstrebig hergestelltes Produkt.

Der vermeintliche Paradigmenwechsel einer Trennung von Sexualität und Fortpflanzung bedient vor dem Hintergrund biologistischer Grundüberzeugung letztlich nur eine reaktionäre Ideologie und bleibt in der Logik der Kontrolle. Der tatsächliche Paradigmenwechsel steht noch aus, nämlich die Aufhebung der Zwangselternschaft – erst damit werden  der Katholizismus und seine protestantischen Radikalisierungen überwunden.

Mit dieser von uns vorgeschlagenen Neufundierung von Verwandtschaftsbeziehungen gewinnen alle Beteiligten.

Der Befürchtung, mit der Adoption als Regelfall würden wesentliche Kinderrechte geopfert, ist entgegenzuhalten, dass die derzeitige Regelung einer Erziehungsberechtigung nicht auf die Kinderrechte abhebt, sondern im Gegenteil die Verfügungsgewalt der Eltern festschreibt. Geradezu automatisch werden hierdurch Kinder zur Projektionsfläche der Eltern, deren eigene Hoffnungen und  Wünsche die Kinder umsetzen bzw. deren eigene unerwünschte Verhaltensformen am Kind exorziert werden sollen. Eine freiwillig eingegangene Erziehungsverpflichtung dagegen nimmt  die Eigenpersönlichkeit des Kindes in den Blick  und verschiebt das Verhältnis von einem elternzentrierten zu einem kindzentrierten Fokus. Da Kinder per se von Erwachsenen abhängig und in vieler Hinsicht in der schwächeren Position sind, wiegt unser Vorschlag umso mehr, da damit eine reale Stärkung der Kinderrechte einherginge. Demgegenüber erweist sich die Vorstellung, dass es für Kinder wesentlich sei, ihre biologischen „Wurzeln“ zu kennen, als eine  bloße Projektion von Erwachsenen.

Die Erwachsenen wiederum gewinnen in vielerlei Hinsicht. Zum einen wollen wir auf eine veränderte Beziehung der Eltern hinweisen. Elternschaft kann nur noch einvernehmlich und einverständlich zustande kommen. Dadurch kann zwar nicht sichergestellt werden, dass die Eltern dauerhaft harmonieren, aber vielen verdeckten Machtspielen würde durch das Fehlen des gesetzlichen Zwanges zur Elternschaft die Grundlage entzogen. Selbstbestimmte Elternschaft betont den Aspekt des Erwachsenseins als Ergebnis einer eigenverantwortlichen Wahl im Gegensatz zu einer mit verdeckten Absichten herbeigeführten Bindung. Keiner oder keine kann sich mehr als Opfer fühlen, jedenfalls solange der Beischlaf einverständlich stattfand. Offene oder unterschwellige Opfergefühle bilden oft genug eine schwere Hypothek für eine Paarbeziehung und damit auch ein Problem für die ganze Familie.

Ohne Abtreibung moralisch bewerten und die Diskussion darum nochmals aufrollen zu wollen, entsteht durch die Einführung von Mutterschaft per Unterschrift eine weitere Option. Abtreibung könnte in vielen Fällen überflüssig werden, da eine tabufreie Adoptionspraxis die gesellschaftliche Regel würde und dann als die verträglichere Lösung zur Wahl stünde. Das nicht allein unter christlichen Wertvorstellungen gesehene Manko, dass ein werdender Mensch bei der Abtreibung zur unerwünschten Existenz wird, könnte damit vermieden werden, das Abtreibungsdilemma entschärft werden.

Auch gesellschaftlich bedeutete es einen großen Gewinn. Wenn man den Gedanken einer Entkoppelung von leiblich/biologischer Entstehung eines Kindes und der Definition von Elternschaft einmal zulässt, kommt man an den Kern von Biologismus, Rassismus und vielfältiger Diskriminierung in der Gesellschaft. Denn hinter der derzeitigen Stigmatisierung Adoptierter oder auch anonym geborener Kinder verbirgt sich eine unausgesprochene, aber gerade dadurch leider sehr wirksame biologistische Zoologie und Botanik der menschlichen Gattung. Wovon anders als von Zoologie ist denn die Rede, wenn von „menschlichen Rassen“ oder moderner von Ethnien gesprochen wird? Absurde Botanik ist die Annahme, dass ein Mensch „Wurzeln“ habe und die Kenntnis ihrer wichtig sei, da andernfalls „psychische Probleme“ in Form von Entwicklungs- und Kommunikationsstörungen drohten. Ausgehend von solchen Metaphern hat sich insbesondere in den westlichen Ländern eine Genealogie als Biologismus etabliert. Inzwischen mögen zwar deren sozialdarwinistische Implikationen moralisch diskreditiert sein, die in offenem Widerspruch zu den Menschenrechten stehen, ohne dass indes die ideologischen Grundlagen eines solchen Materialismus prinzipiell angetastet worden wären. Erst wenn wir unsere Geschichte entbiologisieren, entstehen tatsächliche Spielräume und der Blick auf die Würde des Menschen jenseits von kausalen Zwangsverhältnissen und willkürlichen Grenzziehungen würde frei.

Auch wenn sich mit unserem Vorschlag jeder aus der Pflicht zu Unterhaltsleistungen für Kinder stehlen könnte, weil niemand mehr zur Elternschaft gezwungen werden könnte, bezweifeln wir, dass es sich um ein wirkliches Problem handelt. Derzeit steht einer großen Zahl von adoptionswilligen Eltern eine kleine Zahl von zur Adoption freigegebenen Kindern gegenüber. Gibt es einen Grund anzunehmen, dass durch den Wechsel von einer Erziehungsberechtigung zu einer Erziehungsverpflichtung die Bereitschaft, Unterhaltszahlungspflichten für diese Erziehungsverpflichtung zu übernehmen, geringer würde?  Wir vermuten, dass Eltern auch weiterhin für ihre Wunschkinder gerne die finanziell notwendigen Ausgaben zu leisten bereit sind. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, kommt zu dem Paradigmenwechsel von Sorgerecht zu Sorgepflicht und von Erziehungsberechtigung zu Erziehungsverpflichtung noch der Wechsel von Unterhaltszahlungspflicht zu Unterhaltszahlungsberechtigung hinzu. Diese wäre naheliegenderweise  durch eine erhöhte Erbschaftsteuer zu finanzieren, die für die Unterhaltszahlung aller Kinder verwendet würde. Damit geht eine erhöhte Chancengleichheit einher, weil aus der gesamten Vermögensmasse einer Volkswirtschaft die gesamte Unterhaltsleistung für die Kinder erbracht würde. Naheliegend deswegen, weil durch die Tatsache von Generationsabfolgen Eigentümer von Vermögen (zumindest in bürgerlichen Gesellschaften) völlig wegfallen und deren Eigentumstitel an Andere übergehen müssen. In gewisser Weise ist die Tatsache, dass es Familienbildungen mit Kindern überhaupt gibt, die Grundlage dafür, dass es Erbschaften gibt. Die vorgeschlagene Transferleistung trägt genau dem Rechnung, nur dass – in gewisser Weise kollektiviert- die Gesamtheit der Versterbenden die Gesamtheit der Heranwachsenden direkt finanziert.

Dieser Text von Sylvia Zeller und René Talbot wurde leicht redigiert im Jahrbuch der Erotik XXII des Konkursbuchverlages: "Mein heimliches Auge" im Herbst 2007 veröffentlicht

Dokumentation der Radiosendung des Dissidentenfunks zum Thema: "Anonyme Geburt - Wege aus biologistischem Denken" am 9.3.2006


 

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